Wie an verschiedenen Stellen des Leitfadens erwähnt, haben unsere Forschungsergebnisse gezeigt, dass weder einzelne Gebäudeeigenschaften noch die Einhaltung von Normen und Empfehlungen zur Innenraumqualität sondern allein die subjektiven Bewertungen der Gebäudenutzenden Komfort, Gesundheit, Arbeitsleistung und Arbeitszufriedenheit von Büronutzenden vorherzusagen vermögen. Als entscheidend hat sich hierbei nicht nur die subjektive Bewertung der physischen Arbeitsumgebung erwiesen, sondern auch die individuelle Beurteilung des sozialen Arbeitsumfelds und der Arbeit selbst.
Die Erklärung für die grosse Bedeutung der Nutzerwahrnehmungen im Vergleich zu den Gebäudeeigenschaften und Messwerten zum Innenraumklima liegt vermutlich darin, dass zum einen abstrakte Gebäudeeigenschaften in der Regel wenig über die konkrete bereichsspezifische (und damit unmittelbar nutzerrelevante) Bürogestaltung aussagen und zum anderen in Schweizer Bürogebäuden die existierenden Empfehlungen zur Innenraumqualität mehrheitlich eingehalten werden. Letzteres spricht für die im internationalen Vergleich hohe Qualität von Schweizer Bürogebäuden.
Unseren Analyseergebnissen zufolge lassen sich auch bereits normkonforme und zertifizierte Büroumgebungen noch beträchtlich weiter optimieren – nämlich indem den subjektiven Wahrnehmungen der Nutzenden und auch nicht-physischen Arbeitsaspekten mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Bürogebäude, Büronutzende und die Tätigkeiten, die darin ausgeübt werden, sind als ein Gesamtsystem zu betrachten und es ist die Gestaltung des Gesamtsystems und nicht etwa einzelner Gebäudeaspekte, welche letztlich die Wahrnehmungen der Nutzenden und damit ihren Komfort, ihre Gesundheit und Arbeitsleistung sowie ihre Arbeitszufriedenheit bestimmen.
Eine solche Sichtweise wird aber bei der Gestaltung von Bürogebäuden und –räumen nur äusserst selten eingenommen. Allzu oft wird stattdessen versucht, Nachhaltigkeit ausschliesslich mittels der Beachtung starrer Richtlinien, Empfehlungen und Bewertungskriterien zu einzelnen isoliert betrachteten Bereichen umzusetzen – dies vermutlich um der enormen Komplexität der Bauprojekte Herr zu werden und wenigstens einen mittelmässigen Qualitätsstandard sicherzustellen. Nicht selten aber sind die Ergebnisse einer solchen Vorgehensweise
- Bauten mit gebäudeweit einheitlicher Gestaltung und Innenraumqualität, welche die effektiven Nutzerbedarfe nicht ausreichend berücksichtigen
- Bauten, in denen allein technisch messbare Bewertungskriterien optimiert wurden, die für die Nutzenden aber nur teilweise tatsächlich relevant sind
- Optimierungen in einzelnen Bereichen, die durch Massnahmen in anderen Bereichen sogleich wieder zunichte gemacht werden.
Oder um mit Beispielen zu sprechen: Was nützt eine normkonforme, zertifizierte Büroumgebung, wenn
- sich Nutzende nicht behaglich fühlen, weil Akustikmassnahmen das Klimakonzept des Gebäudes unterwandern?
- CO2-Grenzwerte eingehalten werden aber andere Stoffe in der Raumluft zu unangenehmen Gerüchen oder zu Gesundheitsbeeinträchtigungen führen?
- geforderte Fensterflächen und Lichttransmissionsgrade von Sonnen- und Blendschutzsystemen eingehalten werden, die Tageslichtverfügbarkeit und Sicht auf die natürliche Umgebung aber durch benachbarte Gebäude, Mobiliar oder die schlechte Steuerung des Sonnenschutzes massiv eingeschränkt wird?
- Dezibelwerte optimiert werden, obwohl der eigentliche Störfaktor im Büro die Sprachverständlichkeit ist?
- man für allfällige intensive Zusammenarbeit keine Projekträume und für konzentriertes Arbeiten keine Rückzugsmöglichkeiten hat?
- …
wenn also zusammengefasst, die Arbeiten, die im Gebäude ausgeübt werden, nicht optimal unterstützt werden?
Selbstverständlich sind Normen und Zertifizierungen dennoch unverzichtbare Werkzeuge in Planung, Bau und Betrieb von Bürogebäuden. Allerdings dürfen diese Hilfsmittel nicht dazu führen, dass der kritische Blick fürs Ganze und Wesentliche (System Bürogebäude, Nutzende und Ihre Tätigkeiten im Gebäude) verloren gehen und so innovative, kontextspezifische Lösungen unterbunden werden.
Wie aber lassen sich ganzheitliche, nutzerorientierte und dadurch innovative Gestaltungen im Schweizerischen Bürogebäudebau und -betrieb in die Tat umsetzen? Die Empfehlung hierzu ist in diesem Fall für Eigentümer, Bauherren und Planer dieselbe wie für Betreiber, Arbeitgeber und Nutzer und gilt sowohl für den Bürogebäudebau als auch den Innenausbau: Mithilfe einer systematischen, professionell durchgeführten nutzerorientierten Bedarfsanalyse ganz zu Beginn (noch vor der eigentlichen Planung durch Architekten), gefolgt von einem kontinuierlichen Monitoring des gesamten Planungs- und Umsetzungsprozesses können die wesentlichsten nutzerspezifischen Bedarfe erfasst und die Nutzenden in die Lösungsfindung und -umsetzung einbezogen werden. Dies gegebenenfalls zusammen mit den nötigen Change Management Aktivitäten dürfte die Akzeptanz der Nutzenden für die neue Büroumgebung und ihre damit verbundenen Bewertungen massgeblich positiv beeinflussen und so auch zu guter Gesundheit, Arbeitsleistung und Arbeitszufriedenheit beitragen. Selbstverständlich darf der Nutzereinbezug mit der Fertigstellung der neuen Umgebung nicht enden. Vielmehr sollten Optimierungspotenziale weiterhin konsequent erfasst und gemanagt werden (vgl. auch Post Occupancy Evaluations). Dies, weil auch unter Zuhilfenahme einer Bedarfsanalyse immer kleinere oder auch grössere Dinge vergessen gehen können und, weil sich die Tätigkeiten der Nutzenden und Ihre damit verbunden Ansprüche typischerweise im Laufe der Zeit verändern. Entscheidend für Gesundheit, Arbeitsleistung und Arbeitszufriedenheit ist, was am Schluss beim Nutzenden als Gesamteindruck tatsächlich ankommt. Hierzu leistet der blosse Einbezug der Nutzenden einen ähnlich grossen Beitrag wie die letztlich effektiv resultierende, ganz konkrete und bürobereichsspezifische Umsetzung von Aspekten wie Raumklima und Luftqualität, Beleuchtung, Aussicht, Privacy/Lärm und Ästhetik.